Eine Weihnachtsgeschichte
erzählt von Irene-Christine Graf
erzählt von Irene-Christine Graf
Immer dann, wenn sich die Menschen in den kalten Winternächten der Vorweihnachtszeit in der guten Stube versammeln, wenn das Klappern der Stricknadeln nur vom Geräusch der zerberstenden Nussschalen unterbrochen wird, wenn der Schein des Kaminfeuers tanzende Schatten auf die Gesichter wirft, dann erzählen die Alten ihre Geschichten aus längst vergangener Zeit.
Irgendwie, so begannen sie ihre Geschichte, irgendwie war er schon immer hier gewesen, doch niemand konnte sich daran erinnern seit wann. Irgendwann einmal hatte er jene prächtige aber desolate Villa am Rande des Dorfes gekauft die so lange leer gestanden war da niemand das Geld für die Renovierungsarbeiten aufbringend wollte. Irgendwann, so wussten die Alten zu berichten, war ein Notar im Amtshaus erschienen, hatte nur die notwendigen Papiere unterschrieben und war wieder abgereist ohne der Einladung des Bürgermeisters in dessen Weinkeller Folge zu leisten. Seit damals war er da.
Früher, war der Junge oft an der efeuumrankten Mauer des weitläufigen Gartens gestanden, hatte ihn gesehen wie er, von einem farbigen Chauffeur kutschiert, die kiesbedeckte Auffahrt hinauffuhr und suchend seinen Blick in die Ferne warf.
?Wer ist er? hatte er seine Mutter gefragt.
?Ein Monster von dem man sich fernhalten muss? war ihre Antwort gewesen.
?Was ist ein Monster??
?Ein Mensch ohne Herz der keine Kinder mag? antwortete sie und drückte ihn fest an sich.
Früher war er nur an den Wochenenden dagewesen. Er kam Freitagabend, vor Einbruch der Dunkelheit ohne die übliche Rast im Dorfgasthaus zu machen und Montags, noch vor dem Morgengrauen war er wieder abgereist. Irgendwann jedoch war er geblieben, hatte fremdländisch aussehende Menschen beschäftigt, hatte den Dunkelhäutigen in den kleinen Laden geschickt um Lebensmittel zu kaufen, doch keine Silbe war diesem zu entlocken. Der Bürgermeister war erbost, Er war erbost nicht gefragt worden zu sein, erbost keine Genehmigung zum Umbau des Hauses gegeben zu haben. Er war vorstellig geworden in der Villa, wurde an der Tür abgewiesen und wenig später kam jenes Schreiben mit den eleganten Schriftzug einer teuren Anwaltskanzlei in das Bürgermeisteramt, dass Monsieur Bracht keine genehmigungsbedürftigen Umbauarbeiten an dem Haus durchführe und ersuche nicht weiter gestört zu werden. Die Dorfbevölkerung lachte. Und damals, als kindliche Neugierde den Jungen immer wieder zu dem Haus trieb, ersann er die Geschichten über ihn. Manchmal war er in seiner Phantasie ein Nachkomme des Grafen von Monte Christo der hier seine unermesslichen Schätze hortete, manchmal ein Pirat oder Goldgräber.
?Er hat einen riesigen Christbaum. Mit goldenen Sternen und funkelnden Kugeln und mindestens tausend Lichter darauf? hatte er seiner Mutter aufgeregt erzählt, als eines Tages in der Vorweihnachtszeit diese hohe Tanne den Garten des Alten in himmlisches Licht tauchte.
?Bringt auch keine Licht in die Finsternis des Herzens? war ihre lakonische Antwort gewesen ?ich will nicht dass Du in seine Nähe gehst.?
Seit damals waren seine Ausflüge zur Villa Aktionen in geheimer Mission geworden. Von dem kleinen Mauervorsprung in einer Ecke des Gartens vorborgen konnte er sehen wie er tagsüber schwer gebeugt an seinem Schreibtisch saß und, wenn abends die Lichter angingen, er in prächtige Gewänder gehüllt in einem Fautail saß und mit geschlossenen Augen schwermütiger Musik lauschte. Doch damals, das ist lange her.
Irgendwann einmal waren die Arbeiter verschwunden, ohne dass, wie anfangs befürchtet, jungfräuliche Mädchen vergewaltig worden, oder Diebstähle zu vermelden waren. Irgendwann einmal war ein Leichenwagen durch das Dorf gefahren und man hat den Dunkelhäutigen nie mehr gesehen. Und irgendwann gewöhnte man sich daran die Mauer des Schweigens um die prächtige Jugendstilvilla nicht durchbrechen zu können.
Irgendwann begann der Alte jedoch lange Spaziergänge in der Dunkelheit zu unternehmen, angetan mit einem langen wallenden Mantel und einen tief ins Gesicht gezogenen Hut, nur begleitet von einem struppigen Hund der nicht von seiner Seite wich. Man versuchte ein weiteres Mal den Kontakt zu ihm zu knüpfen, warf ihm ein freundliches ?Grüß Gott? entgegen, erntete jedoch nur dieses erschrockene Aufbäumen seines Körpers und sah flüchtende Beine.
?Wovor läuft er davon? fragte er die Mutter.
?Vor der Erinnerung? sagte sie mit leiser Stimme und ein wissendes Lächeln huschte über ihr Gesicht bevor sie sich wieder ihrer Handarbeit widmete.
Die Dorfbevölkerung hatte sich an ihn gewöhnt in den vielen Jahren und wenn er jetzt, langsam und schlurfenden Schrittes das Haus verließ um seinen Spaziergang zu machen, sprach in niemand mehr an. Manchmal jedoch verließ er mit seinem zwischenzeitlich museumsreifen Wagen das Dorf. Stunden später kehrte er zurück und an seiner Seite saß ein Mann, der scheinbar teilnahmslos die Umgebung betrachtete. ?Sicher sein Sohn? meinten die Einen, ?wahrscheinlich sein schwuler Lover? konstatierten die Anderen. Der junge Mann verließ nie das Haus in jenem prachtvollen Garten, doch der Junge konnte ihn sehen, wenn er mit leerem Blick zum Fenster hinausstarrte und manchmal, wenn der Hund auf der Suche nach seinem neuen Freund war, so etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht huschte.
Er hatte Freundschaft mit dem Hund des Alten geschlossen. Eine Freundschaft von der weder der Alte noch seine Mutter wissen durfte. Der Alte nicht, weil er ja ein Monster ohne Herz war und den Hund wahrscheinlich gekocht und gebraten hätte und die Mutter nicht ?? Nein, er wusste eigentlich nicht warum er seiner Mutter nicht von jenen Nachmittagen erzählte an denen er mit dem Hund tollend über die Wiesen gelaufen war, sie erhitzt am Ufer des kleinen Baches den springenden Forellen zugeschaut, oder ganz einfach nebeneinander saßen und den Flug der Bienen beobachteten.
In jenem Jahr hatte der Winter früher als sonst Einzug gehalten. Mit eisigem Atem überzog er die schutzlos dem Wetter ausgesetzten Bäume mit klirrender Eisschicht und die Felder warteten sehnsüchtig auf den schützenden Mantel des Schnees um ihre noch offenen Wunden zu bedecken und die in ihrem Leib keimende Frucht zu erhalten. Die Totengräber hatten Schwerstarbeit geleistet um das Grab auszuheben und frierend stand der Junge vor dem billigen Sarg der die sterblichen Überreste seiner Mutter barg. ?Erde zu Erde, Staub zu Staub? hörte er den Priester sagen und die hilflos ausgesprochenen Beileidskundgebungen der Wenigen die dem armseligen Trauerzug gefolgt waren erreichten ihn kaum. Doch mit tränenverschleierten Augen sah er ihn. Schwer auf einen Gehstock gestützt stand er abseits, fast verborgen von dem wuchtigen Grabstein und es war nur dieses kaum wahrnehmbare Nicken mit dem Kopf welches Anteilnahme bekundete. ?Er ist auch gekommen? wollte er sagen, doch er sah nur mehr den im Wind flatternden Mantel der sich fast schemenhaft entfernte.
?Sie hätte nicht sterben dürfen? schrie der Junge in die Stille des Hauses und die Einsamkeit griff mit gieriger Hand nach ihm. ?Warum sie?.
Er war allein. Allein mit seiner Erinnerung, allein mit den unendlich vielen unbeantworteten Fragen die sie nie beantwortet hatte, allein mit seiner Angst vor dem ungewissen Morgen.
?Du musst nachschauen ob sie ein Testament hinterlassen hat? hatte der Priester ihm aufgetragen ?und Du musst schauen, ob es Hinweise auf sonstige Verwandte gibt.?
?Da ist niemand? hatte er trotzig geantwortet.
?Auch Du hattest nicht nur den himmlischen Vater, sondern jemanden der Monat für Monat für Deine Ausbildung aufgekommen ist? war die beschwichtigende Antwort gewesen.
Es war zwei Tage vor der heiligen Nacht und die von ihr noch liebevoll dekorierten Strohsterne baumelten verloren im Zugwind. Nur zaghaft widerstanden die klapprigen Fenster den böigen Winden, unbarmherzig schlich die Kälte in den hintersten Winkel des Hauses und die schwach glimmende Glut des Kamins hauchte erschöpft ihre letzten Strahlen in den Raum. Fast trotzig zeigten die Scheiben jene mit zarter Feder gemalten Eisblumen im Schein der schwachen Beleuchtung und mehr unbewusst als bewusst füllte er die gierig danach lechzende Feuerstelle mit Holz.
Er brachte es kaum über sich. Er konnte kaum jenen kleinen Schreibtisch an dem seine Mutter so oft gesessen war öffnen um jenen Stapel Briefe berühren, die sie in unbeobachtet geglaubten Momenten an ihr Herz gedrückt hatte.
?Verzeih mir? flüsterte er in die Stille hinein während er mit klammen Fingern den sorgsam gehüteten Schlüssel aus ihrer Nähschatulle zog ?Ich muss?.
Es war später, viel später als er, nur eine leichte Jacke lose über die Schultern geworfen hinaus in die bitterkalte Nacht ging, vorbei an dem hell erleuchteten Christbaum der, so wie all die Jahre zuvor, sein festliches Gewand übergezogen hatte. Er hörte das Anschlagen des Hundes als der die Türglocke betätigte, er hörte die schlurfenden Schritte die sich näherten und er hörte das Quietschen der großen schweren Eingangstüre als sie geöffnet wurde.
?Warum? fragte er den Alten der fragend in seine Augen blickte.
?Weil sie es so wollte.?
?Sie konnte nicht gewollte haben dass Sie die Heirat mit meinem Vater verhindert haben? schrie er ihn an und folgte doch der müden Einladung in das Haus.
?Ich wusste nicht dass Du unterwegs warst.?
?Und was war daran verwerflich? War meine Mutter zu minder für eine Familie aus dem alten Adel??
?Nein zu schade. Mein Sohn hätte Deine Mutter nie schwängern dürfen, denn wir wussten von Anfang an, dass er an einer Erbkrankheit litt die ihn irgendwann in eine geistige Umnachtung treiben würde. ?
Der Alte hatte sich aufgerichtet, den Kopf hoch erhoben und mit brüchiger doch fester Stimme die Worte in den Raum hinausgeschleudert und fügte dann mit leiser Stimme hinzu ?wir wussten jedoch nie wann die Krankheit ausbrechen würde.?
?Heißt dass, das mein Vater lebt? flüsterte der Junge jetzt eingeschüchtert ?und heißt das, dass auch ich diese Krankheit habe.?
?Ja, er lebt? antwortete ihm der Alte mit unendlicher Wärme in der Stimme ?und Du kennst ihn auch.?
Fassungsloses Erstaunen spiegelte sich auf dem Gesicht des Jungen.
?Ich soll meinen Vater kennen? Davon wüsste ich aber.?
?Er ist jener Mann den Du am Fenster gesehen hast. Er ist der Mann der Dich beobachtet hat wenn Du mit unserem Hund gespielt hast. Er ist der Mann der nie begreifen konnte welches Juwel in der kleinen Nische in unserem Garten saß.?
?Sie wussten? stöhnte der Junge ertappt.
?Ja ich wusste alles über Dich. Ich wusste dass diese grässliche Krankheit nicht vererbt worden war, ich wusste über deine Erfolge und über Deine Niederlagen, nur Deine Mutter hat mir jeden Kontakt zu Dir verboten. Es war ihre Art Rache zu nehmen für etwas was ich nie beabsichtigt hatte.?
?Heißt das ?..?
?Ja, das heißt dass ich hier her gezogen bin um in Deiner Nähe zu sein, um eingreifen zu können wenn Unbill in Dein Leben kommt, um da zu sein wenn Du mich brauchst.?
?Aber? rief der Junge und sein einziges Bedürfnis war wegzulaufen. Weg von dieser unheimlichen Begegnung mit dem Alten, weg von diesem nach Vergangenheit riechendem Haus, weg von dieser Stille die sie umgab. Doch der Alte hielt ihn zurück. Mit festem Griff hatte er ihn am Arm gepackt, drängte weiter zu der geschwungenen Treppe die ins Obergeschoss führte.
?Schau einmal, schau doch nur ob ich in all den langen Jahren wirklich dieses Monster war, wie mich Deine Mutter nannte. Ob ich jener Mann war der ohne Herz zur Welt gekommen ist.?
Und er folgte ihm. Folgte ihm zu jener Tür die nur leicht angelehnt auf einen leichten Stoß reagierend den Blick freigab in ein Zimmer in dem sich tausende Spielsachen türmten.
?Was soll das? schluchzte jetzt der Junge, doch der Angst folgte die Forschheit der Jugend und der Junge begann schallend zu lachen. ?Wollen Sie mir ein Schaukelpferd zu Weihnachten schenken??
?Nein, aber ich habe Jahr für Jahr diese Weihnachtsgeschenke für Dich gekauft, deren Annahme Deine Mutter verweigerte und ich habe Jahr für Jahr die große Tanne vor unserem Haus schmücken lassen um Dir wenigsten so nahe sein zu können.?
Irgendwann einmal hat sich diese Geschichte ereignet in einem kleinen Dorf irgendwo. Fragt man die Bewohner nach alten Geschichten, so erzählen sie von dem Alten Mann der irgendwann gekommen und irgendwann geblieben war und von jener Christnacht als er, angetan mit seinem wallenden langen Mantel, den Hut tief in die Stirn gedrückt an der Hand des Jungen die Christmette besucht hatte. Und immer dann, glaubt man wieder daran, dass die Sterne die das Himmelszelt mit weihnachtlichem Zauber schmücken, noch viele Geschichten erzählen könnten, die sich irgendwann, und irgendwo begeben haben.
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