Impfgegner: Der Romantik-Popanz
Nationalcharakterklischees sind unterhaltsam. In Witzen sind sie am rechten Platz, etwa so: "Was ist der Himmel? Der Ort, wo die Italiener kochen, die Deutschen organisieren und die Briten für den Humor zuständig sind. Und was ist die Hölle? Der Ort, wo die Briten kochen, die Italiener organisieren und die Deutschen für den Humor zuständig sind." Man lacht darüber, verwechselt es aber besser nicht mit der Wirklichkeit. Denn dass auf solche Klischees kein Verlass ist, hat der Start der Impfkampagne gezeigt, bei dem die Deutschen viel schlechter ausgesehen haben als ihr behaupteter Nationalcharakter.
Nun hat dieselbe Impfkampagne ein anderes Klischee wiederbelebt: die Romantik als deutsches Verhängnis, als kollektiver Erbschaden des irrationalen Antimodernismus. Diese nationalcharakterliche Eigenheit, heißt es jetzt in journalistischen Reflexionen, sei für die relativ geringe Impfquote in den deutschsprachigen Ländern verantwortlich. Aus der Romantik stamme die wissenschafts- und technikfeindliche Naturschwärmerei, die mehr an die Selbstheilung eines ganzheitlichen Bewusstseins glaube als an Laborprodukte der spezialisierten Spitzenforschung und Pharmaindustrie. In der Popularität von Naturheilverfahren und Homöopathie lebe der Irrationalismus der deutschen Romantik fort, der nun eine effiziente Corona-Politik untergrabe.
Tatsächlich kann man hier Bezüge herstellen. Samuel Hahnemann gründete die Homöopathie auf das Ähnlichkeitsprinzip zwischen den Krankheits- und Arzneimittelsymptomen. Darin sah er das universelle Naturheilgesetz, das ihm sinnlich evident schien und keiner "scientifischen Erklärung" bedürfe. Gebraucht er damit nicht genau den "Zauberstab der Analogie", den der frühromantische Dichter Novalis empfiehlt? Und steckt im homöopathischen Prinzip der "Potenzierung", das die Verwässerung zur Steigerung umdeutet, nicht dieselbe zahlenskeptische poetische Kreativität, die Novalis in die Verse "Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren/ Sind Schlüssel aller Kreaturen …" gefasst hat? Kann man das Alternative an der alternativen Medizin nicht insgesamt treffend als das Romantische bezeichnen, indem man darunter die analogieselige Ausrichtung auf ein imaginäres Ganzheitsideal versteht?
Ja, man kann. Der Ausdruck "romantisch" hat eine diffuse, weite Bedeutung, die man auch auf eine technik- und spezialisierungsfeindliche Naturheilkunde beziehen kann. "Gefühlsbetont, schwärmerisch, die Wirklichkeit idealisierend": so erklärt das Duden-Bedeutungswörterbuch das Adjektiv "romantisch", und so kann man passenderweise die Einstellung von Menschen nennen, die die Impfnadel als einen Angriff auf ihre natürliche Gesundheit scheuen und ihrem natürlichen Empfinden mehr vertrauen als Laborexperten. Der diffuse Bedeutungsreichtum eines Wortes ist aber etwas ganz anderes als die Behauptung nationalcharakterlicher Erblasten.
Dass eine Nation überhaupt einen eigenen Charakter habe, der sie auszeichne und von anderen Nationen unterscheide, ist ein anderes, ebenso imaginäres Ganzheitsideal. In patriotischer Gesinnung tritt es auch "gefühlsbetont, schwärmerisch, die Wirklichkeit idealisierend", also romantisch, auf. Dass es gerade die Sprache und die in ihr geschriebene Literatur seien, in denen sich dieser Nationalcharakter manifestiere, ist aber nicht nur im diffusen, sondern auch im historisch-epochalen Sinne eine romantische Position. Sie ist die kulturelle Parallelaktion zu der von der Französischen Revolution inspirierten Hoffnung auf einen geeinten deutschen Nationalstaat. Sie führt zur Idealisierung der Volkspoesie (etwa in den Arnim/Brentanoschen Lieder- und den Grimmschen Märchen- und Sagensammlungen) und zur Gründung der Germanistik.
Wer also heute in den deutschsprachigen Gebieten (und um die geht es in der Impfgegnerdiagnostik) einen gemeinsamen menschlichen Charakter sieht, folgt einer der wirksamsten romantischen Ideen. Der Zusammenhang ist in diesem Fall viel evidenter als in der Medizin und der Impffrage. Wer heute über den Zusammenhang von deutscher Romantik und Impfskepsis nachdenkt, tut dies seinerseits auf der Grundlage eines romantischen Denkmusters. Anders gesagt: Zwischen der Alternativmedizin und Positionen der historischen Romantik gibt es Analogien; zwischen dem Nationalcharakterdenken und der historischen Romantik gibt es Entsprechungen. Noch anders gesagt: Es ist ein Erbe der Romantik, dass man aktuelle gesellschaftliche Trends als nationalcharakterliches Erbe der Romantik verstehen will. Und es ist ein irrationales, eng selektives Erbe, das die Romantik zu einem nationalpathologischen Popanz macht.
https://www.zeit.de/kultur/2021-12/i...ik-verklaerung
Nationalcharakterklischees sind unterhaltsam. In Witzen sind sie am rechten Platz, etwa so: "Was ist der Himmel? Der Ort, wo die Italiener kochen, die Deutschen organisieren und die Briten für den Humor zuständig sind. Und was ist die Hölle? Der Ort, wo die Briten kochen, die Italiener organisieren und die Deutschen für den Humor zuständig sind." Man lacht darüber, verwechselt es aber besser nicht mit der Wirklichkeit. Denn dass auf solche Klischees kein Verlass ist, hat der Start der Impfkampagne gezeigt, bei dem die Deutschen viel schlechter ausgesehen haben als ihr behaupteter Nationalcharakter.
Nun hat dieselbe Impfkampagne ein anderes Klischee wiederbelebt: die Romantik als deutsches Verhängnis, als kollektiver Erbschaden des irrationalen Antimodernismus. Diese nationalcharakterliche Eigenheit, heißt es jetzt in journalistischen Reflexionen, sei für die relativ geringe Impfquote in den deutschsprachigen Ländern verantwortlich. Aus der Romantik stamme die wissenschafts- und technikfeindliche Naturschwärmerei, die mehr an die Selbstheilung eines ganzheitlichen Bewusstseins glaube als an Laborprodukte der spezialisierten Spitzenforschung und Pharmaindustrie. In der Popularität von Naturheilverfahren und Homöopathie lebe der Irrationalismus der deutschen Romantik fort, der nun eine effiziente Corona-Politik untergrabe.
Tatsächlich kann man hier Bezüge herstellen. Samuel Hahnemann gründete die Homöopathie auf das Ähnlichkeitsprinzip zwischen den Krankheits- und Arzneimittelsymptomen. Darin sah er das universelle Naturheilgesetz, das ihm sinnlich evident schien und keiner "scientifischen Erklärung" bedürfe. Gebraucht er damit nicht genau den "Zauberstab der Analogie", den der frühromantische Dichter Novalis empfiehlt? Und steckt im homöopathischen Prinzip der "Potenzierung", das die Verwässerung zur Steigerung umdeutet, nicht dieselbe zahlenskeptische poetische Kreativität, die Novalis in die Verse "Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren/ Sind Schlüssel aller Kreaturen …" gefasst hat? Kann man das Alternative an der alternativen Medizin nicht insgesamt treffend als das Romantische bezeichnen, indem man darunter die analogieselige Ausrichtung auf ein imaginäres Ganzheitsideal versteht?
Ja, man kann. Der Ausdruck "romantisch" hat eine diffuse, weite Bedeutung, die man auch auf eine technik- und spezialisierungsfeindliche Naturheilkunde beziehen kann. "Gefühlsbetont, schwärmerisch, die Wirklichkeit idealisierend": so erklärt das Duden-Bedeutungswörterbuch das Adjektiv "romantisch", und so kann man passenderweise die Einstellung von Menschen nennen, die die Impfnadel als einen Angriff auf ihre natürliche Gesundheit scheuen und ihrem natürlichen Empfinden mehr vertrauen als Laborexperten. Der diffuse Bedeutungsreichtum eines Wortes ist aber etwas ganz anderes als die Behauptung nationalcharakterlicher Erblasten.
Dass eine Nation überhaupt einen eigenen Charakter habe, der sie auszeichne und von anderen Nationen unterscheide, ist ein anderes, ebenso imaginäres Ganzheitsideal. In patriotischer Gesinnung tritt es auch "gefühlsbetont, schwärmerisch, die Wirklichkeit idealisierend", also romantisch, auf. Dass es gerade die Sprache und die in ihr geschriebene Literatur seien, in denen sich dieser Nationalcharakter manifestiere, ist aber nicht nur im diffusen, sondern auch im historisch-epochalen Sinne eine romantische Position. Sie ist die kulturelle Parallelaktion zu der von der Französischen Revolution inspirierten Hoffnung auf einen geeinten deutschen Nationalstaat. Sie führt zur Idealisierung der Volkspoesie (etwa in den Arnim/Brentanoschen Lieder- und den Grimmschen Märchen- und Sagensammlungen) und zur Gründung der Germanistik.
Wer also heute in den deutschsprachigen Gebieten (und um die geht es in der Impfgegnerdiagnostik) einen gemeinsamen menschlichen Charakter sieht, folgt einer der wirksamsten romantischen Ideen. Der Zusammenhang ist in diesem Fall viel evidenter als in der Medizin und der Impffrage. Wer heute über den Zusammenhang von deutscher Romantik und Impfskepsis nachdenkt, tut dies seinerseits auf der Grundlage eines romantischen Denkmusters. Anders gesagt: Zwischen der Alternativmedizin und Positionen der historischen Romantik gibt es Analogien; zwischen dem Nationalcharakterdenken und der historischen Romantik gibt es Entsprechungen. Noch anders gesagt: Es ist ein Erbe der Romantik, dass man aktuelle gesellschaftliche Trends als nationalcharakterliches Erbe der Romantik verstehen will. Und es ist ein irrationales, eng selektives Erbe, das die Romantik zu einem nationalpathologischen Popanz macht.
https://www.zeit.de/kultur/2021-12/i...ik-verklaerung
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